Von Mohnblumen und einem Wunsch

Idealismus ist das Privileg der Jugend, sagt man.

Ich habe mir einen, meinen, Idealismus angeeignet - weil ich jung bin? Unbedarft? Naiv? Idealismus, daran kann ich mich klammern, wenn wieder irgendjemand versucht, ihn mir aus der Hand zu reißen, ein Nachrichtensprecher, ein Online-Kommentar, ein Familienmitglied. So viele, die heutzutage gegen ihn ankämpfen. Nur heute, im Angebot, zweimal Rationalisierung zum Preis von (d)einem Ideal. Eine Zwangsstörung der Post-post-Moderne, wie es scheint. Umsetzbarkeit fragwürdig, aber schön, dass du noch von einer besseren Welt träumen kannst.

Nicht loslassen, liebe Leute. Wo wären wir, wenn wir nicht mehr träumen könnten.

Am letzten Donnerstag, den 11.11., besuchte ich mit einer kleinen Gruppe Freund*innen die Stadt Ypern in Westflandern. Es war eine Zugfahrt von knapp zwei Stunden, durch eine flache, sehr schöne Landschaft, wenig Bäume, viel Landwirtschaft, ein Hügel am Horizont wurde als "Berg" bezeichnet. Es war kein Ausflug ohne Plan und ohne Ziel. Bäume wachsen nach, Felder werden wieder bestellt, die Gräben sind geblieben, die Erinnerung auch. Ypern war vor mittlerweile über hundert Jahren Schauplatz eines dieser Theaterstücke, die die Menschheit nur zu gerne für sich selbst aufführt, dieses Stück mit der banalsten aller Handlungen, wo es um nichts geht als das Essentielle, das Du oder ich. Die Requisiten sind Bomben, Gas, Maschinengewehre. Jedes Jahr am 11.11., dem Tag, an dem im Jahr 1918 der Vorhang über der Bühne heruntergezerrt wurde, weil sonst bald niemand mehr dagewesen wäre, der das Stück hätte weiterspielen können, widmet sich Ypern dem Gedenken.

Am Abend zuvor hatte in unserem Flur ein zweites International Dinner stattgefunden, mit noch mehr Erfolg als beim ersten Mal. Jeder hatte ein Gericht zum Probieren mitgebracht, woraus man induktiv schließen kann, dass man bei einem derartigen Vorhaben nicht viel mehr als zwei Portionen kochen muss, um alle satt zu kriegen. Diese Rechnung hatten wir allerdings ohne den Effekt gemacht, den jahrzehntelange großelterliche Überfütterung auf uns gehabt hatte (denn Omas auf der ganzen Welt sind gleich, was das angeht): natürlich kochten wir alle viel zu viel und aßen konsequenterweise auch viel zu viel. Die Auswahl des Abends beinhaltete unter anderem eine französische Quiche, spanische tortilla des patatas, deutsche Senfeier und Kartoffelpuffer, britischen Yorkshire-Pudding und niederländische Apfeltaschen. Die Betonung liegt dabei auf Auswahl, ich glaube, wir hatten im Endeffekt so an die zwölf, dreizehn Gänge. Da braucht man keinen Michelin-Stern - man muss es nur schlau genug anstellen und sich mit Leuten anfreunden, die kochen können. Das Dinner war also ein voller Erfolg, ich habe einige neue Rezeptinspirationen mitnehmen können und habe auch wieder einmal festgestellt, dass der Höhepunkt deutscher Kulinarik wohl doch in der Senfsoße liegt, was wirklich interessant ist, weil sie dem deutschen Enthusiasmus für Kartoffel- und Fleisch-Variationen etwas entgegenzusetzen hat. Nichts für ungut, lieber Friedrich II.

Wir machten uns also auf, um mit den Erinnerungen an diesen und auch viele weitere schöne Abende Ypern zu besuchen. Hundert Jahre sind nicht lang, und mir ist erst an diesem Tag wirklich bewusst geworden, wie absolut unselbstverständlich es ist, dass ich gemeinsam mit Leuten aus Europa und der Welt an einem Tisch sitzen, gemeinsam essen und gemeinsam lachen kann, solange, bis man entweder vom Essen oder vom Lachen Bauchschmerzen hat. Ich nenne es Glück, mein Glück, in Frieden hineingeboren zu sein, ein Glück, dem sich so viele nicht bewusst sind und was auch ich selbst gar nicht richtig erfassen kann, weil ich keinerlei andere Erfahrungen kenne. Aber Frieden ist nicht nur Glück haben, oder besser gesagt die Lotterie einer Geburt, sondern auch und vor allem harte Arbeit. Krieg führen ist leicht. Frieden ist harte Arbeit, der man sich immer wieder aufs Neue stellen muss. Wer das nicht nachvollziehen kann, sollte sich sehr dringend mit der europäischen Geschichte des letzten Jahrhunderts auseinandersetzen. Wir haben viele Mahnmale dafür, dass Krieg viel, viel zu leicht ist - Ypern ist eines davon.

Am Vormittag des 11. November findet in der Innenstadt die sogenannte Poppy Parade statt, auf Deutsch Mohnblumenparade. Die rote Mohnblüte ist ein im englischsprachigen Raum verbreitetes Symbol für das Gedenken an die Opfer von Kriegsgewalt, insbesondere gefallene Soldaten. An der Poppy Parade nehmen musizierende Gruppen von Vertreter*innen bzw. Nachfahren der Teilnehmenden des ersten Weltkriegs teil, das reicht von schottischen Highlandern mit Dudelsäcken bis hin zu Sikhs, deren Vorfahren für das britische Empire kämpfen mussten. Auch dafür ist mir erst an diesem Tag wirklich ein Bewusstsein entstanden: die Vielzahl an ethnischen Gruppen aus der ganzen Welt, die auf Befehl von Kolonialmächten in Europa kämpfen mussten, weil diese ihr absolut sinnbefreites Kräftemessen in einer Ohnmacht aus Imperialismus und Paranoia gerne bis zum Letzten austragen wollten. Lieber deutscher Geschichtsunterricht: Bitte macht euren Schüler*innen deutlich, warum es Weltkrieg heißt, obwohl der Schauplatz in erster Linie ein geografisch unbedeutender Halbkontinent irgendwo nördlich von Afrika war.

 

Aufgrund selbsterklärender historischer Zusammenhänge unterscheidet sich die deutsche Erinnerungskultur an die Weltkriege sehr stark von der Art und Weise, wie in anderen Ländern erinnert wird. Unser - natürlich nachvollziehbarer - Fokus auf den zweiten Weltkrieg scheint die vier Jahre zwischen 1914 und 1918 zu überschatten, die den Weg für das bereiteten, was danach kam. In Belgien ist das, ebenfalls nachvollziehbar, eher umgekehrt. Und auch die Parade selbst unterschied sich doch sehr stark von dem, was ich in Deutschland an ähnlichen Veranstaltungen erlebt habe, was Sinn ergibt, denn Paraden mit Blaskapellen und Blumen am 9. November würden dem Charakter des deutschen Gedenktages nicht gut zu Gesicht stehen. 1938 hat Priorität über 1918. Vielleicht ist es meine grundsätzliche Herz- und Seelenüberzeugung eines persönlichen Pazifismus oder aber der deutsche Geschichtsunterricht, der dafür gesorgt hat, dass ich nicht gänzlich ohne Unbehagen Jugendgruppen in militärischen Uniformen zusehen kann, die als Abgesandte eines amerikanischen Gymnasium in Deutschland und einer britischen Jugendorganisation ihre Nationen bei der Gedenkparade in Ypern vertreten wollen. Aber auch das ist Kultur und auch das ist ein Urteil, was ich mir vielleicht nicht erlauben kann.

Mehr Lego: die Tuchhallen von Ypern.

Und hier das Original, zumindest das wiederaufgebaute.

Nach der Parade machten wir uns auf zu einen kleinen Spaziergang durch eine wirklich schöne, herbstliche Grünanlage inmitten der Stadt, um dort einen Soldatenfriedhof zu besuchen. In Kunnerwitz haben wir natürlich auch einen dieser Friedhöfe und wir haben während meines Schüleraustausches in Griechenland auch schon Arbeitseinsätze auf einem der dortigen Friedhöfe durchgeführt. Die zahlreichen Gräber, die vielen Kreuze ohne Namen und ohne jegliche Identifikation, direkt an den Orten, an denen das wasteland der Schützengräben sämtliche Verbindungen mit so etwas wie Zivilisation aus der Landschaft radierte, war bedrückend auf eine ganz andere Weise. Wir trugen uns in das Gästebuch des Friedhofs ein, sieben Namen auf dünnem Papier gegen die Fragilität des europäischen Friedens. Es war schönstes Wetter, die Herbstsonne schien auf das bunte Laub. Nachdem wir den Friedhof verlassen hatten, machten wir einige Gruppenfotos und überlegten, ob es physisch möglich sei, durch die Schießscharten einer mittelalterlichen Turmruine mitten im Park zu kriechen (war es nicht). Auf dem Rückweg in die Stadt aßen wir ein semi-gutes Sandwich und besuchten einen englischsprachigen und englisch-geführten Buchladen, der sich exklusiv auf die Kriegszeit spezialisiert hatte und neben Büchern auch Weltkrieg-Memorabilia zum Verkauf anbot. Das ging mir gegen das Bauchgefühl, das muss ich ehrlich zugeben, vor allem, als ich neben der Gedichtsammlung von Frontsoldaten des ersten Weltkriegs, über deren Investition ich durchaus nachdachte, einen Bildband über Nazi-Symbolik fand, dessen primärer Zweck sicher in erster Linie Information war, der mir in deutschen Bücherregalen allerdings einiges an Sorgen gemacht hätte. Auch das besprach ich danach mit den anderen und bemerkte den Einfluss einer nicht-deutschen Sozialisation, die ein für mich fast schon morbide wirkendes Konzept Faszination ohne Selbstbetroffenheit möglich macht.




Den Nachmittag, genauer gesagt vier ganze Stunden, verbrachten wir im Museum In Flanders Fields. Es befindet sich in der nach dem Krieg wiederaufgebauten Tuchhalle von Ypern, einem beeindruckenden Gebäude mit einem sehr schönen Aussichtsturm. Die Ausstellung selbst dreht sich um das Leben und Sterben an der Westfront, mit einem speziellen Fokus auf die Situation in Belgien zu dieser Zeit. Das Museum ist benannt nach einem Gedicht von John McCrae mit dem deutschen Titel Auf Flanderns Feldern, welches oft symbolisch für die Kriegsverwüstung und Verluste des Krieges steht und die Mohnblume als Zeichen des Gedenkens verbreitet hat. Das Museum ist mir eine große Empfehlung wert: wer mal nach Ypern kommt, sollte einen Besuch unbedingt auf das Programm setzen. Im Vordergrund stehen vor allem die persönlichen Erfahrungen einzelner Soldaten: Jede*r Besucher*in bekommt eine reale, historische Person zugeordnet, die in den Feldern Flanderns gestorben ist und aus der Nähe der eigenen Heimat kommt - für mich war das ein Soldat aus Dresden. Deren Lebenslinien folgt man durch die Ausstellung und erfährt sehr viel über das tägliche Leben, die absurde Kombination aus Todesangst und Langeweile und die Zerstörungen an der Front. Belastend, ja, emotional herausfordernd, ja, unglaublich wichtig, ja, auch das. Europa heute ist ein Friedensprojekt, und so normal, wie interkultureller Austausch für Leute wie mich heute ist, funktioniert das nur, solange die Auseinandersetzung mit dem, was Europa früher gekostet hat, weitergeht. Als ich in einer Ecke des Museums die nachgestellte Aufnahme eines Soldaten "Stille Nacht" singen hörte, in Erinnerung an den Weihnachtsfrieden an der Front 1914, musste ich so einige Tränen herunterschlucken, was okay war, weil der ältere Herr neben mir sich auch über die Augen rieb. Nirgends sind Menschen gleicher als im Angesicht von Hoffnung, wo es eigentlich keine geben kann.

Bildbeschreibung: Bei Frezenberg (Zonnebeke) pflügt ein Bauer zwischen einem Feldgrab und dem Wrack eines Panzers, ca. 1920

Die Jahresringe eines Baumes, der während der Kriegsjahre in der Nähe von Ypern stand.

Das Gedicht "In Flanders Fields".

Der Ausgang des Museums. Auf diesen Plakaten stehen alle Gründe, warum wir noch nicht von uns sagen können, von 1914 gelernt zu haben. Die Liste ist seit einiger Zeit unvollständig.

Diese Namensliste zeigt alle Menschen an, die während des Krieges an einem bestimmten Datum in Flandern starben.
 
Mitgliedsstädte der Organisation Mayors for Peace. Ich habe mich über G- gefreut.

Abends beendeten wir unseren Besuch in Ypern mit der sogenannten Last-Post-Zeremonie. Diese findet am Menin-Tor, einem Denkmal für gefallene Soldaten, seit 1928 täglich statt. Da wir an einem Feiertag da waren, war die Zeremonie sehr viel größer und umfangreicher, als sie es normalerweise ist: es wurden kurze Texte verlesen und einige der Musikgruppen aus der Parade des Vormittags nahmen repräsentativ für ihre Länder an der Zeremonie teil. Die Zuschauer*innen standen dicht gedrängt, und auch wenn das Menin-Tor durch Bauarbeiten leider abgedeckt war, war die Szenerie doch beeindruckend. Ich musste noch mal über ein Gespräch nachdenken, welches wir im Museum geführt hatten, und mir ist besonders ein Satz einer Freundin im Kopf hängengeblieben: Ich habe mich verändert, seit ich euch kennengelernt habe. Und es ist wahr, es stimmt. Man ist nicht mehr ganz dieselbe Person, wenn man viel Zeit mit Leuten verbringt, die nicht die eigene Sprache sprechen, nicht die eigene Kultur kennen, andere Erfahrungen gemacht haben; wenn man selbst Fragen stellt und Antworten gibt. Man lernt sich selber ganz anders kennen. Diskussionen, die sich zu Hause nur im Kreis gedreht hätten, fühlen sich an wie ein frischer Wind in der manchmal muffigen Selbstbezogenheit des eigenen Umkreises. Ich bin deutscher geworden, hier in Leuven, aber gleichzeitig auch weltoffener, und noch ein bisschen mehr ich selbst, hoffe ich.



Zwei Dinge waren präsent, an diesem Tag in Ypern. Krieg, in der Parade von denen, deren Vorfahren ihn führen mussten. Im Museum, in dem Bild von dem kleinen Mädchen, die ihren Vater nie wiedersehen würde, dessen Postkarte an sie von einer Kugel zerrissen worden war. In den Holzkreuzen, auf denen nichts weiter stand als "A Soldier of the Great War" - ein Soldat des Großen Krieges. Frieden, im gemeinsamen Versuch, verbotenerweise das Glockenspiel des Museumsturms zu betätigen. Im Bestellen von zu viel Fast Food und in der gescheiterten Unternehmung, sämtliche Pommes aufzuessen. In den Gruppenselfies, im sinnlosen Rennen zu einem Zug, den man gerade schon hat wegfahren sehen, in Konversationen auf Englisch, im Lachen in kalter Bahnhofsluft, im gemeinsamen Schweigen vor dem Menin-Tor. Viel mehr Frieden. So, so viel mehr.

Als wir in der Last-Post-Zeremonie standen, mit teilweise bereits abgefrorenen Zehen, und den Musiker*innen aus den verschiedenen Ländern zuhörten, die dort ein gemeinsames Lied spielten, in Erinnerung an die verwüstete Brandlandschaft Westflanderns, auf der heute wieder Gras wächst, schaute ich kurz hoch. Am Himmel eine kurze Sternschnuppe in einer Ecke meines Blickfelds. Ich wünschte mir etwas, intuitiv und situationsbedingt, mit dem unbändigen, naiven, vielleicht verblendeten Idealismus der Jugend. Ich kann nicht mal sagen, ob es wirklich eine Sternschnuppe war, ob mein Wunsch also auch nur die geringste Chance auf Erfüllung hat - vielleicht war er zu groß für mich allein. Aber ich wünschte ihn trotzdem, auf Flanderns Feldern, für die Welt.



Hanna



You didn't mean to die; it wasn't fair

That you should go when we'd so much to share.

Good nags were all your need, and not a grave,

Or people testifying that you were brave.

The world's too full of heroes, mostly dead,

Mocked by rich wreaths and tributes nobly said,

And it's no gain to you, nor mends our loss,

To know you've earned a glorious wooden cross;

Nor, while the parson preaches from his perch,

To read your name gold-lettered in the church.

Come back, come back; you didn't want to die;

And all this war's a sham, a stinking lie;

And all the glory that our fathers laud so well

A crowd of corpses freed from pangs of hell.

 

Du wolltest nicht sterben, es war nicht fair

Dass Du gehen solltest, als wir so viel noch zu teilen hatten.

Kein Grab war es, das Du brauchtest

Oder Leute, die Deinen Mut bezeugen.

Die Welt ist zu voll mit Helden, meistens Tote,

Verspottet von Blumenkränzen und würdevollen Reden

Dir bringt das nichts mehr, noch heilt es unseren Verlust;

Zu wissen, dass Du Dir ein ruhmreiches Holzkreuz verdient hast;

Noch, während der Pfarrer seine Predigt hält,

Deinen Namen in Goldlettern in der Kirche zu lesen.

Komm zurück, komm zurück, Du wolltest nicht sterben;

Und dieser ganze Krieg ist nur ein Schwindel, eine stinkende Lüge;

Und all der Ruhm, den unsere Väter so besingen

Ein Gedränge von Leichen, befreit von allen Qualen. 

Siegfried Sassoon, aus A Wooden Cross, 1917
nach dem Tod eines Freundes an der Front





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