Napoleon und Amsterdam

 

Ich lebe noch - und habe überlebt! Nach Wochen voller Auszehrungen (Ernährung von Tiefkühlessen) und Entbehrungen (geschlossene Bars) habe ich den Blok überstanden. Und auch alle Prüfungen bestanden. Die KU Leuven hat mir nicht meinen Lernenthusiasmus nehmen können, sondern mich nur sehr skeptisch gegenüber dem belgischen Lerneifer gemacht. Ich werde wohl immer eine Verfechterin der Fraktion Im-Semester-regelmäßig-arbeiten statt Alles-am-Ende-kurz-vor-den-Prüfungen-erledigen sein. Aber es ist, wie es ist, der Blok ist vorbei. Während unsere belgischen Kommiliton*innen sich auf den Weg in die französischen Alpen machten, um ihre einwöchigen (ja, Ihr habt richtig gehört) Ferien zu genießen, packte ich die Überreste von einem knappen halben Jahr Belgien in ein paar Koffer und Rucksäcke. Dinge, die dazu gehörten, waren ein Kontaktgrill, ein geklauter Stella-Artois-Becher aus einer Fakbar sowie ein Cantus-Liederbuch.

Es ist seltsam, wenn man sein Leben in Koffer packen kann. Wenn man weiß, dass man an einen Ort nicht wieder zurückkehren wird, zumindest nicht so, wie man ihn ursprünglich kennengelernt hat. Ich habe das gemerkt, als mich letzte Woche meine Familie besuchen kam und wir das Land noch mal zusammen erkunden konnten. Wir fuhren nach Gent, nach Brügge und Brüssel, wir schauten uns Leuven an - alles Orte, an denen ich schon war, über die ich schon geschrieben habe, mit denen ich schon Erinnerungen verband. Aber irgendetwas war anders. Ich fühlte mich auf einmal wie eine Touristin und nicht mehr wie jemand, die schon Monate dort verbracht hatte. Es war mir ein wenig unerklärlich. Der Abschied vom American College war besonders seltsam. Ich hatte meine Koffer und Rucksäcke dort gelassen und kehrte dnan noch mal zusammen mit meiner Familie zurück, um mein Zeug mitzunehmen. Auf einmal waren da andere Leute in unseren Zimmern, andere Leute, für die es eine Selbstverständlichkeit war, in der Küche zu sitzen und miteinander zu quatschen. Ich war auf einmal wieder Gast da, wo ich gewohnt hatte, ein Gast der Freunde, die im College wohnen geblieben waren. 

 

Die Burg Gravensteen in Gent



Ich habe Euch den Blick auf die absolut zubetonierte Küstenlinie hinter dem Strand erspart. Stellt Euch einfach vor, rechts von diesem Foto wiegen sich Dünengräser sanft im Wind.
 

Der Abschied vom Gebäude war allerdings immer noch leichter als der Abschied von den Menschen. Ich musste wahrscheinlich innerhalb weniger Tage mehr heulen als im ganzen letzten halben Jahr. Natürlich, wir leben in modernen Zeiten, es gibt schon Pläne für die ersten paar Videoanrufe zusammen, wir haben uns fest vorgenommen, uns gegenseitig zu besuchen. Aber das wird nichts daran ändern, dass Dinge sich ändern. Keine entspannten Abende in der Küche mehr. Freundschaft bedeutet jetzt wieder Aufwand, Zeit, Planung, viele Flug- oder Zugkilometer zwischen einander. Es ist jetzt keine Selbstverständlichkeit mehr, diese Menschen um sich herum zu haben. Das ist das, was mich am traurigsten macht. Wenn du viel Zeit mit bestimmten Menschen verbringst, dann macht das etwas mit dir. Und vielleicht stellt du irgendwann fest - hey, ich mag die Person, die ich bin, wenn ich mit euch zusammen bin. Mir ging es so in Belgien. Ich mag den Menschen, der ich da war, und ich will diese Version von mir selbst nicht aufgeben müssen. Aber es wird sich ein Mittelweg finden, irgendwie. Und das bedeutet dann auch, Dinge im Kopf zu behalten, die mir in Belgien wichtig waren, die ich dort gelernt habe, und die ich vor allem auch von den Menschen dort gelernt habe. Wir werden sehen, wie gut das klappen wird.

Nach den Prüfungen hatte ich noch ein paar Ziele offen, die ich vor der Rückkehr nach Deutschland abklappern wollte. Eines davon war Waterloo, welches mit zwei großen geschichtlichen Bedeutsamkeiten angeben kann. Der Sieg über Napoleon im Jahr 1815 ist einer davon, der Sieg einer gewissen schwedischen Band bei einem berüchtigten Musikwettbewerb 150 Jahre später ist der andere. Ihr denkt vielleicht, ich übertreibe, aber die ABBA-Ausstellung ist im selben Gebäude lokalisiert wie das Napoleon-Museum. Wir machten uns also auf den Weg, an einem klassisch verregneten Tag, und fuhren mit dem Zug bis nach Waterloo. Hätten wir vorher mal auf den Plan geschaut, hätten wir festgestellt, dass der Schauplatz der Schlacht sich eigentlich ziemlich weit außerhalb des Ortes befand. Nun gut. Im Informationszeitalter ist Information nie weit entfernt und wir informierten uns über Busfahrpläne. Zwanzig Minuten zum Bus laufen, das war machbar. Wir hatten ja einen Regenschirm. Auch wenn der für drei Leute etwas knapp war. An der Haltestelle angekommen durften wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass der Bus nicht kam - zumindest nicht pünktlich. Laut meiner Freundin war das unmissverständlich darauf zurückzuführen, dass wir uns nicht mehr in Flandern, sondern in Wallonien befanden, und dass man es dort mit den Fahrplänen nicht so genau nehmen würde.

Der Bus kam und wir fuhren zum Museum, nachdem wir einen kurzen Stopp an einer Tankstelle einlegten, um uns nach unserer Zwei-Stunden-Odyssee wenigstens mit etwas Nährstoffen versorgen zu können. Das Museum selbst war zwar relativ klein, aber doch sehr aufschlussreich, inklusive eines sehr realistisch und nur teilweise mit CGI nachanimierten Films über die Schlacht von Waterloo und den preußischen und britischen Sieg. Diese Nachstellung findet jedes Jahr im Juni übrigens auch in echt statt, dafür reisen dann stolze Patrioten und sogennante Reenactors aus den einzelnen Teilnahmeländern an. Ich habe überlegt, wie denn wohl die Rolle des Napoleon vergeben wird. Wahrscheinlich an die Person mit der beeindruckendsten Statur. Wir stellten uns erneut dem strömenden Regen und kletterten auch auf den aufgeschütteten Hügel mit dem riesigen, das Schlachtfeld überblickenden Löwen, der laut Hörensagen über die Leichen der Gefallenen unter dem Hügel wacht. Alles Quatsch - der Hügel ist Jahre nach der Schlacht erbaut worden und sollte auch keine Knochen beinhalten. Wir zeigten angemessene Ehrerbietung und versuchten, unsere nach 200 Stufen schmerzenden Oberschenkel zu ignorieren.


Das Waterloo-Denkmal inklusive Löwe.

Die Rückfahrt wiederum war erneut eine Odyssee, die ihren Namen verdient. Wir machten uns auf den Weg zur Bushaltestelle, um einen Bus vor unserer Nase wegfahren zu sehen - kein Problem, laut Fahrplan kommen die alle fünfzehn Minuten. Fünfundzwanzig Minuten später standen wir immer noch an der Haltestelle. Es waren zwar mehr als ein Bus gekommen, allerdings waren die alle knapp fünfhundert Meter vor unserer Haltestelle einfach abgebogen und nicht wieder aufgetaucht. Wir begannen, hinter der Kurve eine Art Schwarzes Loch zu vermuten, welches die nichts Böses ahnenden Busse absorbierte und nicht wieder hervorgab. Entweder das, oder eine Verschwörung der Erkältungsarzneimittelindustrie, die uns möglichst lange im Regen stehen lassen wollte, um den Umsatz nach oben zu treiben. Schlussendlich kamen dann nicht nur ein, sondern gleich zwei Busse, und zwar direkt hintereinander. Wallonien halt. Abends gegen sechs waren wir dann wieder in Leuven und hatten von den knapp sieben Stunden, die wir unterwegs gewesen waren, ungefähr zwei im eigentlichen Museum verbracht. Gute Quote, würde ich sagen.

Weil mein Mietvertrag Anfang Februar auslief, ich aber noch einige Tage überbrücken musste, bis mich meine Familie in Leuven abholen würde, (und auch aus Blok-Frustration), hatte ich im Januar bereits einen kleinen Mini-Solo-Kurzurlaub in Amsterdam geplant. Wer mich ein bisschen kennt, weiß, dass ich sowohl ein Fan der Fantasy-Buchreihe Six of Crows bin als auch den Roman Der Distelfink von Donna Tartt sehr mag, die beide zu Teilen in Amsterdam bzw. Amsterdam-inspirierten Städten spielen. Ich freute mich also auf fünf Tage, die ich mit der Filmmusik dieser Werke im Ohr neben Kanalhäusern und in Kunstmuseen verbringen konnte. Das tat ich dann auch dementsprechend - der Vorteil am Alleine-Reisen ist, dass man niemandem auf die Nerven geht, wenn man aggressiv die eigene Liebe zu Büchern auslebt, eine Art Fantourismus betreibt und sechs Stunden hintereinanderweg in Museen verbringt. Amsterdam fand ich aber auch unabhängig von meiner Vorprägung toll. Ich besuchte das Anne-Frank-Haus, das Rijksmuseum und das Van-Gogh-Museum und machte einen Tagestrip, um mir die obligatorischen Windmühlen anzuschauen und Käse zu kaufen. Und weil ich die Möglichkeit, mit kostenlosen Fähren zu fahren, nicht nicht nutzen konnte, schaute ich mir auch eine wirklich sehr empfehlenswerte Street Art-Ausstellung in ein paar nicht mehr genutzten Schiffsdocks an.


 

Wie es sich gehört, klapperte ich auch so einige Amsterdamer Buchläden ab. Dieser hier war mein Liebling: The Book Exchange, ein Second-Hand-Laden für englischsprachige Bücher. Ich verbrachte knapp anderthalb Stunden hier und verließ den Laden mit drei Büchern, nachdem ich mich stark am Riemen reißen musste, nicht noch mehr mitzunehmen. Das obere Foto ist aus dem American Book Center, sehr groß und mit einer sehr vielfältigen Auswahl.

 

Das Rijksmuseum.



 




Das Van Gogh Museum.

 

Die frei zugängliche moderne Kunstausstellung in einer Lagerhalle des ehemaligen Bootsherstellers NMBC. Lohnt sich sehr!

 

Dieses Kunstwerk besteht aus einer drei Meter hohen Stimmgabel (hinten im Bild), die alle paar Minuten einen lauten Gong abgibt, der in der Werft wiederhallt. Es hat definitiv seine Wirkung - die ersten paar Male dachte ich, hui, hier sind sie ja großzügig mit ihren Schiffsglocken.
 

 

 

Es war eine Touristen-Bucket-List, die ich abarbeitete, aber nachdem ich jetzt ein halbes Jahr in einem fremden Land gelebt hatte, war es auch ganz entspannt, mal einfach nur Touristin zu sein. Und ich habe mir fest vorgenommen, noch mal wiederzukommen - die Amsterdam-Atmosphäre ist schon etwas Besonderes. Als ich abends durch die Straßen lief, sah ich ein Tattoostudio und hatte aus irgendeinem Grund plötzlich das Bedürfnis, mir ein Tattoo stechen zu lassen. Das ist es wohl, was Amsterdam mit dir macht. (Nein, ich habe es letzten Endes nicht getan. Meine Hautarzt-Rechnung ist sowieso schon hoch genug, auch ohne zusätzliche Tinte.) Wie es sich für Amsterdam gehört, war mein Aufenthalt auch nicht ganz abenteuerfrei. Der Sicherheitsbeamte, der mich am Eingang des Rijksmuseums durchsuchte, informierte mich freundlich, aber bestimmt darüber, das Pfeffersprays zwar in Deutschland erlaubt, in den Niederlanden aber leider illegal seien. Mir, die sich im selben Moment schon dafür verflucht hatte, das Pfefferspray in meiner Tasche nicht in der Unterkunft gelassen zu haben, schlief ein wenig das Gesicht ein. Ich wurde dann vor die Wahl gestellt, das Pfefferspray dem Sicherheitsbeamten auszuhändigen oder ihn die Polizei anrufen zu lassen. Nun, diese Entscheidung fiel nicht so schwer. Im letzten Satz entschuldigte sich der gute Herr dann sogar noch dafür, dass er mir meine Verteidigung wegnehmen musste. In dem Moment wurde mir sehr deutlich bewusst, dass man als junge (weiße) Frau, die tendenziell so aussieht, als würde sie öfter Museen besuchen und niemanden ohne Grund mit Pfeffersprays angreifen, doch einige Privilegien genießt - es verdächtigt dich so schnell niemand, etwas Böses im Schilde zu führen, wenn du die eigene Bestürzung glaubhaft vermitteln und dich auf Unkenntnis der lokalen Regeln berufen kannst. Diese Privilegien werden aber vielleicht wiederum ausgeglichen durch das Anti-Privileg, dass man als junge Frau den Besitz eines Pfeffersprays für notwendig halten könnte. Ich werde mir zumindest ein neues besorgen, in Deutschland, wo es auch die entsprechende Gesetzeslage gibt.

Das Papier, auf dem die Unabhängigkeitserklärung der USA verfasst wurde, stammte aus einer der Windmühlen, die ich besuchte.

 

Amsterdam ist vorbei, Leuven mittlerweile auch, meine Eltern haben mich wieder nach Hause chauffiert, Erasmus liegt in der Vergangenheit. Seltsam ist es schon - man hat so viel geplant, sich so viel vorgenommen, so lange darauf gewartet, und dann war es so schnell vorbei. Eine Metapher für das ganze Leben? Ich werde Leuven vermissen, sehr sogar. Nicht den Blok, nicht die Prüfungen, aber die Menschen, das College, die Fakbars, die Ausflüge, die Waffeln, die Architektur der Benelux-Staaten, die Sprache. Ich werde eine Weile brauche, bis ich mein normales Sprachgefühl wieder erlangt habe - es kommt des Öfteren vor, dass ich vor meiner Tastatur sitze und mir nur das englische Wort einfällt. Letztens habe ich ein englisches Verb auf Deutsch verwendet, habe es sogar konjugiert, ohne dass mir auffiel, dass man es im Deutschen nicht nutzen kann. Dieser Fakt wurde mir dann klar, als der Rest meiner Familie im Auto begann, sich über mich lustig zu machen. Mein Verhältnis zur deutschen Sprache steht symbolisch für mein Verhältnis zum Rest von Deutschland - es wird eine Weile dauern, bis man sich wieder so orientieren kann, wie man es vorher konnte. Und manche Dinge bleiben auch nachhaltig anders. Aber das ist nicht schlimm - man geht nicht ins Ausland, damit alles gleich bleibt.


Das hier ist nicht der letzte Beitrag auf diesem Blog, keine Sorge, einer kommt noch, ein kleines Extra. Aber danach war es das dann mit Belgien und mit Fast schon Brüssel. Vielleicht kommt irgendwann noch mal ein neuer Blog, der dann den Titel trägt Jetzt aber wirklich Brüssel. Mal sehen. Man weiß nie im Leben. Auf jeden Fall möchte ich mich bei meiner ganzen großen Leserschaft bedanken - teilweise einer größeren Leserschaft, als ich erwartet hätte. Es waren tolle Monate in Leuven und ich hoffe, dass auch Ihr während der Lektüre dieser Texte den einen oder anderen schönen Moment hattet. Mein Ziel war es, Euch mitzunehmen nach Belgien, ins American College und in einen Erasmus-Alltag in Leuven, und auch für mich selbst ein kleines Online-Tagebuch zu erstellen, auf das man zurückschauen kann. Das Lesen war hoffentlich genau so spannend wie das Schreiben. Vielen Dank, dass Ihr Euch für mich und meine Ausführungen interessiert habt - ich weiß, dass ich manchmal etwas viel über nicht so super wichtige und interessante Themen vor mich hinerzählt habe. Es wird hoffentlich nicht der letzte Auslands-Blog bleiben, den ich in meinem Leben schreiben darf.

Ich wünsche Euch alles Gute und schreibt mir, wenn Ihr nach Belgien fahren wollt und Tipps braucht!


Hanna

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