Vom Klassenkampf zum Straßenkampf



Mein Leben und Lernen in Leuven entwickelt sich nach wie vor mit einer erstaunlichen Gesamtkohärenz. Stand die erste Uni-Woche noch ganz unter dem Stern der französischen Revolution (inklusive Witzen meiner Mitbewohner darüber, dass der belgische König offenbar umgehend mit der Guillotine rechnen müsse, sollte er sich in der Öffentlichkeit zu dekadent zeigen), schaffe ich es seit Tagen nicht, mich von Karl Marx loszureißen. Sogar der Fahrradverkehr auf den Leuvener Straßen scheint sich einer kapitalistischen Leitlinie zu unterwerfen - dabei nehmen Fahrradfahrer*innen relativ eindeutig die Rolle der Bourgeoisie ein, die grundsätzlich jedes bisschen Platz, auf dem sie nicht durch die schiere physische Präsenz von Fußvolk oder Autos behindert werden, für sich beanspruchen. Der materielle Entwicklungsstand der Gesellschaft (die unglaubliche Enge der Straßen und die ca. 60 Zentimeter breiten Gehwege) bestimmt deren Produktionsverhältnisse (Menschen, die Kapital in Form eines Fahrrads besitzen, dominieren das Verkehrsgeschehen und haben in absolut jedem Fall Vorrang.). Leider hat eine Studentenstadt grundsätzlich auch die Eigenart, dass hier viele Studenten leben, die gerne alkoholische Getränke aus Glasbehältnissen genießen. Diese landen bei ausreichendem Pegel dann in schöner Regelmäßigkeit auf den Straßen, und zwar in kleinteiliger, sehr schlecht sichtbarer und für Fahrräder sehr gefährlicher Form. Nachdem ich also - als kapitalistische Fahrradfahrerin - zum dritten Mal in drei Wochen einen platten Reifen hatte, war ich dann doch ganz froh, dass meine Fahrradvermietung in sozialistischer Tradition nach dem Kollektivprinzip organisiert ist und ich meine Ersatzreifen dort kostenlos bekomme.

So, genug dieser eleganten marxistischen Analogie. Die nächste Station meiner persönlichen Touristen-To-Do-List für Belgien war Brügge, der Besuchermagnet Belgiens schlechthin. Die Stadt ist knapp 1,5 Stunden von Leuven entfernt und letztes Wochenende machten wir uns bei schönstem Herbstwetter in Kombination mit Sommertemperaturen auf den Weg, um dieses Reiseziel von der Liste zu streichen. Eine meiner Mitbewohnerinnen kommt aus der Gegend um Brügge und hatte angeboten, mit uns hinzufahren und uns durch die Stadt und zu allen wichtigen Orten zu führen. Noch mal ein Riesen-Dankeschön an sie - ich bin einfach echt begeistert davon, wie sich so viele Menschen hier Mühe geben, uns durch den Auslandsaufenthalt zu begleiten und sicherzustellen, dass wir am Ende tolle Erinnerungen mitnehmen dürfen. Das ist nicht selbstverständlich und verdient einfach nur Wertschätzung.

Brügge ist ästhetisch gesehen wahrscheinlich eine der schönsten Städte, die ich je besuchen durfte (sorry, Görlitz). Wir spazierten im Sonnenschein durch das Stadtzentrum und schauten uns den Begijnhof, einige Kirchen und den (laut Insider-Informationen) besten Schokoladenladen Brügges an. Die Kanäle, die Architektur und die Geschichte der Stadt machen in Kombination eine ganz besondere Atmosphäre, die auch nicht durch riesige Touristengruppen getrübt wird. In einer der Stadtkirchen durften wir uns eine katholische Reliquie ansehen, in einer anderen stolperten wir auf den Tipp von Freunden über ein Begegnungs- und Kulturzentrum inklusive einer meterhohen Schaukel am Kirchendach - zur Benutzung ausdrücklich freigegeben. Natürlich waren wir eine knappe Stunde dort nur am Schaukeln. Abgesehen von der puren Ästhetik erschien mir Brügge manchmal wie eine Stadt aus einem Disneyfilm - man hat das Gefühl, es würden keine Leute dort wohnen, sondern die Stadt wäre speziell für unseren Besuch errichtet worden. Vielleicht war das allerdings auch ein Effekt des Wetters - wir konnten uns tatsächlich den ganzen Tag über Sonne und frühherbstliche Farben freuen.

Der Begijnhof in Brügge - diese Form des Zusammenlebens in einer spirituellen Gemeinschaft ist typisch für Flandern und stammt aus dem Mittelalter. Hier lebten Frauen in einer sicheren, geschlossenen Gemeinschaft zusammen und orientierten sich vor allem an karitativen, humanitären Idealen. Oft bot diese Gemeinschaft den Frauen auch eine Möglichkeit, ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Selbstständigkeit aufzubauen. In der Diskussion kamen wir überein, dass dieses Leben einer mittelalterlichen Ehe wahrscheinlich vorzuziehen gewesen wäre.



Danke an unsere sehr professionelle Reiseführerin durch Brügge!

Ich, glücklich, auf einer Schaukel. Es sind die kleinen Dinge im Leben.





Aber man kann nicht nur in Städten unterwegs sein, und ich suche mir Stück für Stück meine Natur zusammen. Der Garten des American College ist einfach ein Juwel - mehr als genug Quadratmeter voller unbändig wachsender, semi-gezähmter Pflanzenwelt. In der Theorie können sich die Bewohner des College einen kleinen Flecken Garten zuschreiben lassen und dann dort anbauen, was ihnen gefällt. In der Praxis freuen sich die Brennesseln über die uneingeschränkte Existenzberechtigung, die man ihnen zugesteht, und ich freue mich über den Mini-Tisch inmitten der Brennesseln, der sich super zum Schreiben eignet, wenn man mal keine Lust hat, Leute zu sehen. Die Zucchinipflanzen meines Mitbewohners sehen auch super aus. Und mit dem Fahrrad ist man auch schnell aus der Stadt und kann sich auf mehr oder weniger gut ausgetretenen Pfaden im Wald verlaufen. Es gibt überall Orte, die man brauchen kann - man muss sie sich nur suchen.

Wie zu Hause. Auf die beste mögliche Art.

Bisschen Pferdekuscheln macht einen Tag grundsätzlich immer besser.

Weil ich mich von den Drohungen der Uni-Repräsentant*innen noch nicht genug unter Druck habe setzen lassen, habe ich außerdem beschlossen, meine Zeit in Belgien jetzt nicht mehr nur noch zwischen Uni, Zugfahrten zu coolen Orten und Spieleabenden in der Küche aufzuteilen, sondern außerdem dem Präsidium des American College beizutreten (Zumindest für die restlichen knapp drei Monate, die mir noch bleiben). Das Präsidium ist eine Gruppe von Leuten aus dem College, die verschiedene Events organisieren und das studentische Leben am College gestalten - das geht von alkoholisierten Stadtwanderungen bis zu Ausflügen auf Weihnachtsmärkte und Jogging-Übungssessions für den Leuvener 24h-Lauf, einem Event, welches in zehn Tagen stattfinden wird, für das schon jetzt die halbe Stadt trainiert und auf das ich mich unglaublich freue - auch wenn weder die Gewinnchancen meiner Fakultät noch die meines Colleges sonderlich vielversprechend sind. Das College hat mich so herzlich aufgenommen, dass ich einfach wirklich gerne etwas davon zurückgeben wollte. Und weil in solchen Orga-Gruppen meistens wirklich coole Leute zu finden sind, freue ich mich wirklich sehr darauf, mitmachen zu können. (Hat auch wirklich gar nichts damit zu tun, dass ich ein Präsidiums-T-Shirt bekomme. Nein, überhaupt nicht.)

Das Kasteel van Arenberg, welches in einem malerischen Park mitten in Leuven liegt.


In Bezug auf Wortspiele kann sogar Jena hier noch was lernen.

Ein anderer Aspekt, von dem sich Deutschland durchaus mal etwas abschauen könnte: Nicht nur die Zugtickets sind in Belgien finanzierbar, ohne sich dafür verschulden zu müssen (habe gerade 150 € für den Weihnachtsbesuch in Görlitz ausgegeben und ja, dieser Seitenhieb könnte etwas damit zu tun haben), sondern auch die vegane und vegetarische Versorgung in den Supermärkten. Wer glaubt, ich könnte nicht ein halbes Jahr lang von veganem Hack und Vanille-Sojajoghurt leben, weil's pro Packung nur 1,60 € kostet - falsch gedacht. Heute Abend wird allerdings erst mal nicht-vegan gegessen: Bei unserem eigenen kleinen International Dinner darf man sich auf die kulinarischen Köstlichkeiten anderer Länder einlassen, und weil wir einerseits zwei Deutsche sind und ich andererseits der regionalen Küche meiner Heimat jetzt nicht unglaublich viel abgewinnen kann (und, ehrlicherweise, meine Koch-Skills darauf auch nicht unbedingt eingestellt sind), gibt es von mir stattdessen Pirogi (natürlich auch gut für eine ausgeglichenere Repräsentation Ost- und Westeuropas bei unserem Dinner). Für die deutsche Repräsentation gibt es Käsespätzle. Und vielleicht bring ich nach Weihnachten noch eine Packung Bautzner' Senf und ein Glas Sauerkraut für meine Mitbewohner*innen mit. Die werden sich freuen.

Der sonntägliche Vormittag wurde heute eingnommen von einer Fahrradtour in die südlichen Vororte und Waldgebiete von Leuven - obwohl die genaue Definition von "Wald" unklar bleibt, denn ab welcher Größe wird eine Anhäufung von angepflanzten Buchen zu einem Wald? Mapy.cz führte uns auf Umwegen über teilweise sehr holprige Wanderwege (denn wer fährt schon auf Asphalt) und selbst der zwischendurch einsetzende Regen konnte unserer Motivation nichts anhaben. Auch wenn wir die Strecke zum Schluss abkürzten. Meine Outdoorgarderobe wurde vom belgischen Wetter zum ersten Mal auf die Probe gestellt, aber sie bestand den Test mit Bravour.


Die wunderbaren Zeichnungen an den Schränken stellen übrigens einen Versuch dar, Deutschland aus dem Kopf zu zeichnen. Die Beurteilung dieses Versuchs überlasse ich mal den Profis.

 

Für den Abschluss dieses Texts habe ich hier noch ein Zitat meines Literaturprofessors von letzter Woche, welches ich hiermit gerne archivieren würde.

"People who are interested in literary texts are actually intrigued by the way in which literary texts look like stars - and if you connect them to each other, even though there is absolutely no causal relationship between them, somehow, something lights up."


In der Hoffnung, dass auch in eurem Nachthimmel ein (literarisches) Sternbild auftaucht,

Hanna




Kommentare

  1. Kostenlose Tshirts sind immer ein gutes Argument!

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    1. Exakt, da sind keine weiteren Überzeugungsmaßnahmen notwendig!

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