Brüssel und Bücherkäufe

Als kleine Vorabbemerkung: Mein Handy ist knapp zehn Jahre alt und das merkt man unter anderem an der Qualität einiger der nachfolgenden Bilder. Dafür musste ich es immerhin nicht neu kaufen.

 

Die Hauptstadt des Königreichs Belgien ist mit dem Zug eine knappe halbe Stunde von Leuven entfernt und die Züge sind ungefähr so getaktet wie die Jena-Weimar-Erfurt-Verbindung, das heißt, man ist sehr flott unterwegs. Dieses Wochenende machten wir uns also auf den Weg, um das Herz der EU zu entdecken. Und das praktisch wortwörtlich - wir verbrachten direkt zu Beginn erst mal knappe zwei Stunden in der Europa-Ausstellung des Europäischen Parlaments. Wir konnten uns aufgrund unserer natürlich fehlenden Reservierung zum Glück vor einer größeren Touristengruppe hineinquetschen, mussten dann eine flughafenartige Sicherheitskontrolle über uns ergehen lassen (inklusive des Ausziehens von Gürteln) und durften uns dann einen Audioguide in einer Sprache unserer Wahl aussuchen. Die Ausstellung selbst war sehr schön gemacht und im Übrigen auch komplett kostenlos - man wurde durch einen Audioguide geführt, zuerst durch einen Zusammenschnitt der europäischen Geschichte nach 1945, danach durch verschiedene Ausstellungsräume zu Aufbau und Funktionsweise der heutigen EU. Falls sich jemand fragt, wo das Geld für die Digitalisierung bleibt - schaut in der EP-Ausstellung in Brüssel nach. Nachdem wir uns die Geschichte der EU-Integration der letzten Jahrzehnte genug zu Gemüte geführt hatten, gab sich die EU ziemliche Mühe, uns im Detail mitzuteilen, warum sie so eine tolle Sache sei. Der Film zu den Abläufen im europäischen Parlament war cineastisch ein derartiges Meisterwerk, dass es den Eindruck erzeugte, die Demokratie der EU sei praktisch direkter als der Athener Marktplatz um 450 v. Chr. Zum Schluss durften wir noch unsere Wünsche für die Zukunft Europas auf einen Screen projizieren lassen. Auf meinen zugegeben sehr idealistisch formulierten Wunsch nach Fairness, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Hoffnung für die Zukunft folgte der Wunsch von Jannik aus Neu-Ulm nach einer europäischen Bierpreisbremse - auch nachvollziehbar.

 

Mein Fahrrad hat einen Platten ... aber irgendwie muss man ja zum Bahnhof kommen.  


Hatte mich innerlich ein bisschen über einen Kumpel lustig gemacht, als er meinte, er hätte sein Fahrrad in Leuven verloren. Ist aber doch nicht ganz so abwegig, wie ich dachte.


Vorbereitung auf eine Karriere als Parlamentarierin. Oder so ähnlich.





"das tritt - nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich." - am Ende ist es dann doch der Schmetterlingseffekt.








 

 

 

Nachdem wir uns von der leider nicht kostenlosen EU-Merch-Sammlung im Souvenirshop losgerissen hatten, wanderten wir auf unserer Tour der Stadt unter anderem am Wohnsitz des belgischen Königshauses (mit überraschend wenig Security), am Justizpalast und der Kirche Notre Dame du Sablon vorbei. Wir genossen den Ausblick über die Stadt und machten uns dann auf die Suche nach etwas Essbarem, was natürlich, weil wir ja schlussendlich doch Touris sind, in belgischen Pommes und Waffeln resultierte. Hat sich aber gelohnt - jetzt hat man dieses Touri-Erlebnis zumindest abgehakt. Wir fuhren am Nachmittag mit dem Zug zurück und ich konnte meine bisher in der Deutschen Bahn erworbenen Skills im Im-Zug-auf-dem-Boden-sitzen direkt anwenden. Immerhin war der Zug pünktlich. Mein Fazit zu Brüssel ist sehr positiv: ich war überrascht, wie entspannt die Stadt drauf ist. Vielleicht lag es an der unsäglichen Uhrzeit eines Samstagvormittags, aber es war wirklich nicht laut, nicht chaotisch und auch größentechnisch irgendwie beschaulich. Also nicht Hamburg, sondern eher Dresden. Das Stadtbild war zudem viel sauberer, als ich es von deutschen Großstädten kenne. Ich war allerdings über die Perspektive, nach Leuven zurückfahren zu können, irgendwie trotzdem ganz froh.

 




Wer mich kennt, weiß, dass ich Bücherkäuferin aus Leidenschaft bin. Mein Kundenstatus bei Medimops könnte mittlerweile auf "Premium-Kunde" angehoben werden, so oft, wie ich dort bestelle. Aber Medimops ist eine deutsche Firma, und ich dachte, ich würde da zumindest die nächsten paar Monate mal nichts kaufen, angesichts der relativ offensichtlichen Tatsache, dass ich nicht in Deutschland bin. Tja, falsch gedacht. Ich sitze, zwei Wochen nach Beginn meines Auslandssemesters, in meinem Zimmer und sammle mir eine schöne, nette Medimops-Bestellung zusammen, inklusive der horrenden Versandkosten (so viel also zum Thema grenzenloses Europa, ja ja), weil ich meinen ersten wirklichen Kulturschock erlebte, als ich die Studentin vor mir in der Reihe im Uni-Buch-Laden mal eben 180 € für Lehrbücher bezahlen sah. Später wurde ich darüber aufgeklärt, dass das hier wohl ganz normal sei, jedes Semester Bücher im Wert von teilweise mehreren Hundert Euro zu kaufen, um sie dann nach Gebrauch wieder zu verkaufen. Meine sorgfältig zusammengestellte Sammlung an Lehrbuch-PDFs auf meinem Computer winkte mir von irgendwo in meinem Kopf aus zu und ich verließ den Laden, nicht jedoch, ohne vorher für 63€ eine Ausgabe der Norton Anthology of English Literature, Volumes D-F käuflich zu erwerben. Bücher kaufen will ja bekanntlich gelernt sein, und so hatte ich natürlich in weiser Voraussicht bereits vorher die Second-Hand-Buchläden von Leuven abgeklappert, um in einer Stöber-Aktion, auf die jeder Bücherwurm stolz wäre, zwei meiner fünf geforderten Primärtexte für deutlich weniger Geld zu finden. Aber eben nur zwei. Ich rechnete nach und kam zu dem Schluss, dass ich sogar inklusive der Versandkosten die restlichen Bücher bei Medimops günstiger kaufen würde als vor Ort. Gesagt, getan. Bin ich zu geizig, was das angeht? Ich weiß es nicht, vielleicht. Was ich weiß, ist, dass ich mich trotz aller guten Vorsätze in einem halben Jahr zwingen werde müssen, meine Norton Anthology nach belgischem Vorbild wieder zu verkaufen - die würde sich doch so gut auf meinem Bücherregal machen.

 

Der Leuvener Stadtmarkt - zumindest ein kleiner Teil davon.

 

Eine der vielen kleinen, netten Ecken, die man hier finden kann.

 

Das Hauptgebäude der Leuvener Universitätsbibliothek, mit amerikanischem Geld (und auch amerikanischem Pathos) nach dem ersten Weltkrieg wieder aufgebaut. Das Gebäude brannte sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg durch deutsche Angriffe aus.

 

Genau so sollten Bibliotheken - meiner komlett unvoreingenommenen Meinung nach - aussehen. Wer mich in den nächsten Monaten sucht: sucht hier. Konnte mich schon bei der Tour heute nur sehr schwer zurückhalten, nicht einfach das nächstbeste Buch aus den Regalen zu ziehen und direkt in der passenden Umgebung mit der akademischen Weiterbildung zu beginnen.
 

 

 

Blick über die Stadt vom Turm der Bibliothek aus.

 

Die Voresungen haben begonnen und ich habe die erste Woche erfolgreich gemeistert. Am Dienstag ging es los mit "The Low Countries in European History", einem Kurs, der die wechselnde und spannungsreiche Position der Benelux-Länder innerhalb Europas verfolgt. Bisschen Lokalkenntnis ist immer gut, dachte ich mir, und musste in mich hineingrinsen, als die Professorin den zahlreichen US-amerikanischen Studierenden im Raum direkt in der ersten Stunde ein niederländisches Trump-Satirevideo zeigte. Am Mittwochmorgen wurde meine Lern-Leidenschaft zum ersten Mal hart (wortwörtlich) auf die Probe gestellt, als ich die Vorlesung zu Europäischer Integration seit dem zweiten Weltkrieg vom Boden aus verfolgen durfte, weil der Raum so dermaßen voll war, dass es keine Sitzplätze mehr gab (Ich habe mich so motiviert gefühlt wie selten - ist das etwa der Effekt von tatsächlich vollen Hörsälen? Kann da leider nicht aus Erfahrung sprechen, in Jena sind die immer so leer). Es war eine tolle Vorlesung und ich freue mich auch sehr auf die beiden Essays, die wir vor Weihnachten noch einreichen dürfen (tatsächlich keine Ironie - noch nicht). Vielleicht schreibe ich einen über die Position von Nachwende-Ostdeutschland in Europa, hab mich da noch nicht ganz festgelegt. Wir sprachen über Hegels Dialektik und einige Kern-Aspekte der EU. Die Professorin korrigierte einen der Studierenden, dass eben nicht Deutschland federführend war in der EEC und in den zahlreichen anderen prä-1989-paneuropäischen Zusammenschlüssen, sondern der Westen von Deutschland. So viel zum Thema Perspektive aus dem Ausland: Für viele und gerade junge Leute ist Deutschland eben synonym mit West-Deutschland und wenn es um historische Entwicklungen geht, dann war Deutschland eben - nun ja, der Westen halt. Was sind dann aber die, die übrigbleiben? Was mich persönlich sehr fasziniert hat und auch weiterhin an diesem Kurs interessieren wird, ist die nicht-deutsche Perspektive auf Deutschland als Fixpunkt der EU. Es ist durchaus interessant zu hören, wie die Besorgnis über die deutsche Vormachtstellung in Europa klingt, wenn sie zur Abwechslung mal nicht aus einem moralisierend-kritischen Beitrag einer überregionalen deutschen Qualitätszeitung kommt.



 

Oben und unten: das Institut für Philosophie, in dem ich eine Vorlesung habe. Ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass derartige Uni-Gebäude zum Lernerfolg der Studierenden beitragen. Zumindest, wenn diese einen übermäßig stark ausgeprägten Sinn für Ästhetik haben.

 

Donnerstags ging es dann weiter mit einer Soziologie-Vorlesung und ich bekam das unheimliche Gefühl, von der Französischen Revolution verfolgt zu werden. Es hat aber sehr viel Spaß gemacht, vor allem, weil der Professor so unglaublich begeistert von seinem Fach war. Das motiviert sofort. Generell muss ich sagen, dass ich die Atmosphäre, die Umgebung einfach noch mal besonders (in Ermangelung eines besseren Wortes) akademisch stimulierend finde. Vielleicht freut mein Hirn sich nach der Sommerpause auch einfach über neuen Input. Am Freitag hatte ich dann meine letzte Vorlesung, eine Philosophie-Vorlesung zum Thema AI und Technologie, auch komplettes Neuland für mich. Ich stelle mehr und mehr fest - ich brauche die Abwechslung, die Vielfalt in dem, was ich mache. Verschiedene Disziplinen, verschiedene Perspektiven, das ist genau das, was mir Spaß macht und was mich auch herausfordert. Nur ein Thema, nur eine Wissenschaft würde mir, glaube ich, auf Dauer nicht reichen. Und das Sich-Ausprobieren in diesem Sinne ist eben in einem Erasmus-Semester super möglich.

Mama-Pakete (und Mamas) sind die Besten. (das bleiben sie auch, wenn sich das Kind irgendwo im Ausland rumtreibt)

An alle, die sich auf weitere Berichte über das belgische Bier gefreut haben und die ich jetzt mit zwei Absätzen über meine Vorlesungsinhalte gelangweilt habe - sorry! Meine Ausrede ist meine nach wie vor anhaltende Erkältung, ich wollte meine Erholungsphase nicht mit Alkohol gefährden. Jetzt muss ich nur noch mit etwas FOMO (zu deutsch etwa: Angst, etwas zu verpassen) klarkommen - was, wenn ich wegen Krankheit den entscheidenden Zeitpunkt verpasst habe, um Leute kennenzulernen (gekonnt die Tatsache ignorierend, dass ich schon mehr als genug Leute kennengelernt habe.) Ja, auch das gehört zu Auslandserfahrungen, glaube ich. Ich habe durchaus hin und wieder das Gefühl, nicht alles zu schaffen, was ich mir für die Zeit hier vorgenommen habe, oder irgendwas zu verpassen, was natürlich ein unmöglicher Anspruch ist - man kann nicht alles machen, man wird nie alles schaffen. Aber das Gefühl ist trotzdem da. Meine Selbsttherapie ist momentan: bewusst auch Zeit für mich nehmen und die Dinge tun, die mir wichtig sind. Das sind unter anderem die Vermeidung eines Kontrollverlusts über meine Uni-Aufgaben, was Leckeres zu kochen oder eben die zwanzig Minuten Klavier am Tag. Was mich momentan auch beschäftigt, ist die Frage, ob sich irgendwann Heimweh einstellen wird - bin ich eine schlechte Tochter/Freundin/Schwester/etc., wenn das nicht passiert? Muss ich erst mal genug meinen Endlich-nicht-mehr-Deutschland-Enthusiasmus ausleben? Liegt es einfach nur daran, dass ich momentan so viel zu tun habe und gar nicht dazu komme, über zu Hause nachzudenken? Oder ist das normal? Wer es weiß, sagt mir Bescheid.

Liebe Grüße aus Leuven

Hanna




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