Fahrrad-Konventionen

Früher war es immer mein Talent, genau dann krank zu werden, wenn irgendein wichtiger Termin anstand. So verpasste ich über die Jahre hinweg unter anderem ein Nightwish-Konzert, eines meiner eigenen Konzerte, die anscheinend legendäre 18.-Geburtstagsparty einer Freundin, über die heute noch geredet wird (die Party, nicht die Freundin) und so einige andere schöne Events. In den letzten Jahren hat sich das ein bisschen geändert und heutzutage werde ich immer dann krank, wenn ich gerade alle wichtigen Termine (in den meisten Fällen Prüfungen) erfolgreich hinter mich gebracht habe. Und so wiederholt sich das Muster erneut: Seit Freitag liege ich mit einer ziemlich heftigen Erkältung in meinem Zimmer herum und bin zwölf bis vierzehn Stunden am Tag praktisch nur am Schlafen. Aber dank meines inneren Rhythmus ist das ja kein Problem, denn es ist ja Wochenende und alle Einführungsveranstaltungen, die irgendwie wichtig sind, habe ich davor schon mitnehmen können. Also eine Runde Mitleid bitte, aber ganz so dramatisch ist es dann doch nicht, hab ja nichts verpasst. Vor meinem ersten Krank-Sein im Ausland hatte ich vorher etwas Sorge gehabt - als ich das erste Mal in Jena krank im Bett lag, rief ich heulend meine Mama an. Aber auch das ist einer der Vorteile von einer großen Anzahl an Mitbewohner*innen: alle machen sich einen Kopf, alle bieten dir an, dir mit irgendetwas zu helfen, alle wünschen dir gute Besserung, du hast praktisch gar keine Chance, dich allein zu fühlen. Mir wurde Suppe gekocht (an der Stelle noch mal eine kleine virtuelle Umarmung und ein Danke an meine Mitbewohnerin, falls sie das liest) und Paracetamol zur Verfügung gestellt. Ich bin noch nicht mal eine Woche hier, man kennt sich noch gar nicht wirklich und kommt aus so vielen verschiedenen Ländern, aber der community spirit existiert seit Tag eins und ist schon jetzt wirklich schön. Zitat einer Mitbewohnerin: "Wir sind alle allein hier, wir müssen uns ja umeinander kümmern." Danke an alle Leute, die genau das möglich machen.

 

Der Innenhof des American College, mein Zimmer geht zur anderen Seite raus

Nachdem das abgehakt ist, geht es jetzt weiter mit etwas tatsächlich Wichtigem. Ich habe ein Fahrrad! Für ganze 55 Euro kann ich dieses während der nächsten fünf Monate nutzen, um endlich mal eine Stadt mit nicht vorhandener Steigung zu erkunden. Wer Jena oder Klein Neundorf kennt, weiß, wovon ich rede. Als meine Freundesgruppe allerdings entdeckte, dass ich doch tatsächlich meinen Fahrradhelm aus Deutschland mitgebracht hatte, sah ich mich in meiner nationalen Identität sehr schnell bestätigt. Tatsächlich habe ich bisher geschätzte zwei Personen in Leuven mit Helm fahren sehen, und auch das Konzept des Richtungsanzeigens beim Abbiegen scheint hier relativ unbekannt. Für mich, die in den letzten Jahren ihr Fahrrad hauptsächlich genutzt hat, um zum Baden an den Berzdorfer See oder auf der Landstraße zu den  Pferden im nächsten Dorf zu fahren, ist das definitiv eine Umstellung. Aber eine Umstellung der guten Art, denn ein Fahrrad bedeutet hier wirklich, dass alles nur einen Katzensprung von meinem Zimmer entfernt ist. Am Mittwochabend beschlossen wir spontan, mit den Rädern zu einem nahegelegenen Hügel zu fahren, um von dessen Gipfel den nächtlichen Blick auf die Stadt zu genießen. Dieser Ausflug resultierte darin, dass wir um zehn Uhr abends über ein knapp zwei Meter hohes abgeschlossenes Parktor kletterten, einen Zaun überschritten und uns danach durchs Unterholz schlugen, um inmitten von Brennesseln neben einem Bauzaun die Lichter der Stadt und der Sterne anzuschauen. Es war toll. Ehrlich gesagt hätte ich wissen müssen, dass sich mein familiär vorgeprägtes Muster des "Abseits-der-Wege-Erkunden" auch in Belgien fortsetzen würde. Besonders meine Outfit-Kombination an diesem Abend eignete sich super für derartige Kletter-und-Unterholz-Unternehmungen, denn meine Wanderhose und -schuhe hatte ich natürlich in weiser Voraussicht im Zimmer gelassen. In der Theorie bin ich ja mit allen notwendigen Outdoor-Kleidungsstücken für derartige Touren ausgestattet - aber warum langweilig, wenn man auch im Rock und mit absolut profilfreien Schuhen über Parktore klettern kann (und bevor jemand fragt: NEIN, es gibt kein Foto.). Das sind eben die Trips, an die man sich erinnert. Der Abend endete nach einer weiteren Stunde Fahrradfahrt durch das nächtlich erleuchtete Leuven (fast noch schöner als bei Tag) mit hausgemachtem Tiramisu in unserer Küche und es fühlte sich alles etwas wie eine alternative Realität an, in der alles ein kleines bisschen abenteuerlicher ist. Und immerhin kann ich jetzt von mir sagen, dass sich meine Erfahrungen im Einbrechen jetzt nicht mehr nur noch auf ein Freilichtmuseum und eine ausrangierte Eisenbahn beschränken.

 



Abgesehen von diesem kleinen Abenteuer verbrachte ich die letzte Woche unter anderem mit einem Niederländisch-Crashcurs (Zusammenfassung: Nederlands is simpel), einer Bar-Tour und einem Spieleabend. Besonders die Bar-Tour hatte es in sich - die Leuvener Innenstadt war komplett überfüllt und belgische Kommiliton*innen meinten total entspannt zu uns, das wäre ja noch gar nichts, ab nächster Woche würde es dann noch voller werden. Meine innere Wein-auf-dem-Sofa-Genießerin manifestierte sich dabei klar und deutlich. Und natürlich bin ich nicht nur zum Spaß hier, auch wenn die Liste an spaßverbreitenden Vorhaben und Plänen jeden Tag länger wird. Bei den akademischen Infoveranstaltungen wurden wir erst mal darüber aufgeklärt, dass die KU Leuven in den Prüfungen grundsätzlich etwas schlechter bewertet als andere Universitäten, was mich natürlich überhaupt nicht beunruhigt. Nein, wirklich gar nicht, das ist kein Problem für mich, Noten sind auch nur Zahlen. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt auf meine Kurse - meine momentane Erasmus-Lernvereinbarung beinhaltet Module zu Soziologie, englischer Literatur, europäischer Geschichte, Philosophie und einen Niederländisch-Sprachkurs. Ein bunter Mix also, sodass Abwechslung aufkommen sollte. Ab morgen geht es dann also los mit dem Lernen, und das meint man hier auch wirklich ernst: in einer der Infoveranstaltungen wurde uns mitgeteilt, dass wir, wenn wir Anfang November noch nicht mit dem Lernen angefangen hätten, doch bitte unsere Berater kontaktieren sollten, um "eine Lösung zu finden". Gut, dass ich mittlerweile Profi im Erstellen von Lernplänen bin. Ich freue mich auf jeden Fall auf meine Seminare und Vorlesungen, sie klingen alle sehr spannend und ich bin bereit, wieder etwas zu haben, in das ich meine Energie (nach Ende des momentanen erkältungsinduzierten Niedrigenergiezustands) investieren kann.

Und zu guter Letzt ist da ist auch eine weitere, etwas ernstere Sache, die ich hier während der letzten Woche feststellen konnte und in diesem Post ansprechen möchte, und das sind die unglaublichen Privilegien, die man als Austauschstudent*in hat, wenn im eigenen Pass ein Land der EU steht. Während man als EU-Studierende maximal drei bis vier Unterlagen zur Registrierung beim Amt vorlegen muss (herzliche Grüße an deutsche Ämter: es geht auch in einfach!), darf man als Non-EEA-Studierende erst mal einen Nachweis der eigenen Liquidität einreichen. Kein Visum notwendig für mich, den Mietvertragsnachweis schickt das College an die Polizei und mit einer EU-Versicherung geht man hier für einen bis vier Euro zum Arzt. Mein Erasmus-Stipendium deckt praktisch meine gesamten Mietkosten ab, der dreimonatige Erasmus-Sprachkurs ist komplett kostenlos. Ich spreche dieses Thema an, weil ich es für unglaublich wichtig halte, dass man sich immer mal wieder vor Augen führt, dass die EU eben nicht alles komplizierter macht, sondern dass sie grundsätzlich dafür ausgelegt ist, die Dinge einfacher zu machen - und dass das auch durchaus funktioniert, wenn es um internationalen und interkulturellen Austausch geht. Natürlich kann man auch als Nicht-EU-Individuum im Ausland studieren, ich habe hier schon mehr als genug Leute getroffen, die genau das machen. Aber es ist eben komplizierter, teurer und mit sehr viel mehr Organisationsaufwand verbunden. Deswegen: Versucht mal, etwas Wertschätzung für das Konzept Europa aufzubringen, es lohnt sich wirklich. Das, was mir und vielen anderen jungen Leuten nicht nur im Erasmus+-Programm, sondern auch in den zahlreichen anderen Austauschprojekten der EU möglich gemacht wird, das ist eben keine Selbstverständlichkeit und da werden Brücken gebaut für ein Europa, welches auch in Zukunft mit- statt gegeneinander arbeiten kann. Und das halte ich persönlich für ein durchaus lohnenswertes Ziel.

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